„Dass ich nichts von dem Schrecklichen missen möchte“

(pp) „Wir sind alle Kinder des 8. Mai“ hatte Bundespräsident Frank Walter Steinmeier in der mittäglichen Gedenkstunde am 8. Mai im Deutschen Bundestag Jürgen Habermas zitiert. In einer bewegenden Veranstaltung erleben am Abend die Menschen im voll besetzten Saal der Volkshochschule, wie Erinnerung lebendig wird.

Oberbürgermeister Manuel Just beschreibt in seiner Begrüßung den 8. Mai als einen Tag der Widersprüchlichkeiten. Das Ende einer Katastrophe, wie sie die Menschheit noch nie erlebt hatte. Ein Tag, an dem Verzweiflung, Not, Schmerz und Elend den Alltag der Menschen bestimmen. Dieser Tag des größten Elends und der Niederlage  ist jedoch für viele Menschen in Europa und vor allem in Deutschland auch und vor allem ein Tag der Befreiung, der Befreiung von Gewaltherrschaft, Folter und Konzentrationslagern.

 

Der Brief eines Heimkehres

Wie sehr dies zutrifft, wird an diesem Abend in einem Brief deutlich, den ein Soldat wenige Tage nach seiner glücklichen Heimkehr geschrieben hat.

 Adalbert Knapp rahmt diesen Brief seines Vaters in eine anrührende Erzählung ein, die den Weg des Heimkehrers  am 16. September 1945 von seiner Ankunft am Bahnhof in der schwäbisch bayerischen Kleinstadt  Dillingen an der Donau zum Elternhaus seiner Frau mit den sechs Kindern beschreibt. Alex Boguslawski übernimmt die lesende Rolle des Briefschreibers. Es ist ein Brief an die Grafikerin und Buchillustratorin Trude Richter, Mitarbeiterin in dem Erfurter Verlag, dessen Leiter Friedrich Knapp  seit April 1939 gewesen war. Auf dem Heimweg erinnert er sich auch daran, wie er 1938 in Österreich als Gegner der Nationalsozialisten monatelang im Gefängnis saß und zuvor und danach Hausdurchsuchungen der Gestapo erleben musste. „Er hat eine gute Feder und die fürchten wir.“ meinte einer der  Gestapoleute in Innsbruck zu meiner Mutter.

Im April 1943 trotz der fünf Kinder zur Wehrmacht eingezogen, war er im Februar 1945 an die Ostfront versetzt worden. „Nach der Versicherung von Leuten, die den Krieg seit dem ersten Tag miterlebten, waren diese letzten siebzehn Tage das Schauderhafteste, was er überhaupt brachte.“ In russischer Gefangenschaft wird er zu einer Umschulung  in den Kaukasus gebracht. Zu seiner großen Verwunderung erhielten sie „sehr objektive und lehrreiche Vorträge“. Ebenso  erinnert er sich nicht an absichtlich bösartige Misshandlung durch die Russen. Freilich plagen die Wanzen bis zum täglichen Todeswunsch ebenso wie der Hunger quält.

 

Das Gedicht von den Augen der Geliebten

War schon „Horizon“ vom Genesis-Gitarristen Steve Hackett, das auf einer Cellosuite von Johann Sebastian Bach zurückgeht, eine kongeniale Einführung, so bereitete Jürgen Osuchowski mit „Introducao Ao Poema Dos Olhos Da Amada“ (Einleitung zum Gedicht von den Augen der Geliebten) von  Baden Powell, einem berühmten brasilianischen Gitarristen, auf das Wiedersehen mit der geliebten Familie vor.

Denn der Gefangene hat Glück im Unglück, als er schwer erkrankte und  deshalb als überflüssiger Ballast Ende August entlassen werden sollte.

Es ging aus dem Kaukasus nach Frankfurt an der Oder, wo er mit nichts als einem zerfetzten Kittel und einer ebensolchen Hose auf die Straße geschickt wurde. Nach Erfurt in der Sowjetischen Besatzungszone schafft er es über die „grüne Grenze“ nach Süddeutschland zu Frau und Familie. „Und dann erschien der große Augenblick des Wiedersehens mit Frau und Kindern. Diese ersten Tage des neuen und hoffentlich nie mehr unterbrochenen Lebens in der Familie haben vieles ausgeglichen und lassen mich jetzt noch erst recht sagen, dass ich nichts von dem Schrecklichen, das ich sehen und erleben musste, missen möchte“

So froh Frau und Kinder und Vater waren, wieder heil beieinander zu sein, so sehr trauerte die Familie meiner Mutter um die beiden Söhne und Brüder, deren Ältester im  Ersten und der Jüngste in diesem Weltkrieg gefallen waren. Für sie war der 8. Mai 1945 vor allem auch ein Tag der Trauer.

Zum Schluss fragt Alex Boguslawski, ob angesichts der epochalen Wende dieser Jahre und Monate wieder Pflugscharen zu Schwertern werden müssen und Adalbert Knapp erinnerte an  Konrad Adenauer, der 1954 im Bundestag meint: “Die Einheit Europas war ein Traum von wenigen. Sie wurde eine Hoffnung für viele. Sie ist heute eine Notwendigkeit für uns alle.”

Und so bleibe der 8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung und es ist der  Tag der Geburt eines freien und friedlichen Europa, das es zu bewahren gelte.

Das Publikum stimmt dem zu, wenn es begeistert mitsummt bei Monty Pythons „Always look on the bright side of Life“.

 

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